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Von Nicole Handschuh, MA | 03.09.2025

Bias und Beobachtungsfehler im Interviewprozess – Teil 2: Wie faire Auswahl gelingt

Struktur schlägt Bauchgefühl: Warum eine methodische Interviewführung zu besseren Ergebnissen führt.

Einleitung

Ein Auswahlverfahren ist mehr als nur ein Gespräch – es ist ein Entscheidungsprozess, der sowohl die Karriere als auch das Unternehmen nachhaltig beeinflusst. Gerade deshalb ist es entscheidend, dass Interviews professionell geführt und fair bewertet werden. Doch was passiert, wenn unbewusste Vorurteile, selektive Wahrnehmung oder falsche Maßstäbe diesen Prozess beeinflussen? In diesem zweiten Teil unserer Serie beleuchten wir konkrete Strategien gegen Bias im Interviewprozess – und zeigen auf, wie ein strukturierter Ablauf zu mehr Fairness und Entscheidungssicherheit führt.

Trennung von Beobachtung und Interpretation - Verhalten beobachten statt vermuten

Unsere Wahrnehmung ist selektiv. Das zeigen Experimente wie die "Monkey Business Illusion": Wenn wir uns auf eine Aufgabe konzentrieren, blenden wir andere Reize aus. Genau das geschieht auch im Bewerbungsgespräch: Wir nehmen das wahr, was wir erwarten oder wofür wir besonders sensibel sind. Je nachdem, worauf Sie sich fokussieren, werden bestimmte Verhaltensweisen sichtbar und andere bleiben unbemerkt. Vorannahmen steuern die Wahrnehmung und verfälschen somit die Objektivität.

Vorannahmen steuern die Wahrnehmung und verfälschen die Objektivität.

Die Unterscheidung zwischen Beobachtung und Interpretation ist von zentraler Bedeutung. Beobachtung bedeutet, festzuhalten, was tatsächlich gesagt, getan oder gezeigt wurde. Interpretation hingegen beschreibt die Bedeutung, die Sie dem Gesagten, dem Auftreten oder dem Verhalten zuschreiben. Genau hier liegt die Gefahr: Wer vorschnell interpretiert, läuft Gefahr, wichtige Informationen zu übersehen oder durch eigene Annahmen zu verfälschen.

Verhalten muss beobachtet werden, nicht interpretiert. Wer vorschnell interpretiert, läuft Gefahr, wichtige Informationen zu übersehen oder durch eigene Annahmen zu verfälschen.

Trennung von Beobachtung und Bewertung

Strukturieren Sie Ihren Interviewprozess so, dass Sie während des Gesprächs beobachten, wahrnehmen und dokumentieren. Ein kontinuierliches Mitschreiben stellt sicher, dass alle relevanten Informationen festgehalten werden. Die Bewertung sollte erst nach dem Interview erfolgen – idealerweise im Beobachterkreis und abgestimmt auf die zuvor definierten Anforderungen.

Während des Interviews wird beobachtet, wahrgenommen und dokumentiert. Erst nach dem Interview wird beurteilt und bewertet.

Strukturen schaffen: Qualitätskriterien für Interviews

Damit Beobachtungen im Interview belastbar sind, braucht es Struktur. Oft sind Interviews die einzige Gelegenheit, Verhalten unmittelbar wahrzunehmen. Umso wichtiger ist es deshalb, die richtigen Fragen zu stellen. Arbeiten Sie mit verhaltensorientierten Fragen, die Kandidaten dazu bringen, aus konkreten beruflichen Situationen zu berichten. Lassen Sie sich beschreiben, wie ein Konflikt gelöst, ein Projekt gesteuert oder ein Team geführt wurde. Fragen Sie nach Beweggründen und Entscheidungswegen und reflektieren Sie diese gemeinsam mit dem Kandidaten. So gewinnen Sie tiefere Einblicke in das tatsächliche Verhalten – und können oberflächlich wirkende, sozial erwünschte Antworten besser durchschauen.

Achten Sie beim Interview auf folgende Qualitätskriterien:

  • Anforderungsbezug: Beobachtet wird nur, was für die Funktion relevant ist
  • Struktur und Systematik: Einheitlicher Interviewleitfaden, standardisierte Fragen
  • Vermeidung von Beurteilungsverzerrungen: Machen Sie sich typische Wahrnehmungsfehler bewusst und thematisieren Sie diese vorab im Interviewteam
  • Mehraugenprinzip: Beobachtung durch mehrere Personen
  • Bewertungsraster: Einheitliche Skalen zur strukturierten Bewertung fördern Vergleichbarkeit und Nachvollziehbarkeit

Rolle und Verantwortung der Beobachtenden im Auswahlprozess

Beobachten, wahrnehmen und dokumentieren – das sind die drei Schritte während des Gesprächs. Erst im Nachgang erfolgt die Bewertung durch die Beobachtenden. Somit wird die Rolle der Beobachtenden besonders wichtig. Ihre Aufgabe ist es, Beobachtungen so präzise wie möglich zu dokumentieren. Beschreibt ein Kandidat beispielsweise, wie er einen Konflikt gelöst, ein Projekt gesteuert oder ein Team geführt hat, sollten die Beobachtenden genau diese konkreten Handlungen und Aussagen notieren. Anstelle vager Urteile wie „hat einen guten Auftritt“ oder „wirkt selbstbewusst“ gilt es, präzise Verhaltensbeschreibungen zu dokumentieren – etwa „geht aktiv auf Einwände anderer ein und sucht nach Lösungen“ oder „legt zu Projektbeginn einen Zeitplan mit klaren Meilensteinen vor“. So lassen sich die Beobachtungen im Nachgang sachlich einordnen und mit dem Anforderungsprofil abgleichen.

Auf diese Weise entsteht ein Prozess, in dem Beobachtung und Bewertung klar voneinander getrennt sind. Die Beobachtenden liefern die Grundlage für eine faire Entscheidung, indem sie beschreiben, was sie sehen und hören – nicht, was sie hineininterpretieren. So wird Objektivität nicht dem Zufall überlassen, sondern bewusst gesichert.

Für Kandidaten bedeutet das: „Konkrete Situationen statt Floskeln“

Auch Kandidaten selbst können dazu beitragen, ein klareres Bild zu vermitteln. Wer sich im Vorfeld überlegt, welche konkreten Situationen das eigene Können belegen, kann sein Verhalten greifbar machen. Anstelle allgemeiner Aussagen wie „Ich bin ein Teamplayer“ wirken Beispiele überzeugender: „In meinem letzten Projekt habe ich die Teammeetings so strukturiert, dass jeder zu Wort kam und wir Entscheidungen gemeinsam treffen konnten.“ Solche Beschreibungen helfen nicht nur den Beobachtenden, zwischen Beobachtung und Interpretation zu unterscheiden, sondern geben den Kandidaten selbst mehr Kontrolle über das Bild, das im Interview entsteht.

In Zeiten von Videointerviews ist auch auf die technische Ausstattung zu achten - Kameraeinstellungen, Räumlichkeiten, Tonqualität oder Verzögerungen in der Übertragung können das Bild eines Kandidaten unbewusst verzerren. Hinzu kommt, dass nonverbale Signale in einem digitalen Format schwerer wahrnehmbar sind. Umso wichtiger ist es deshalb, auf eine gute technische Qualität, neutrale Rahmenbedingungen und eine klare Struktur zu achten.

Wer sich im Vorfeld überlegt, welche konkreten Situationen das eigene Können belegen, kann sein Verhalten greifbar machen.

Unternehmenspraxis: Mehrwert durch Professionalität

Für Unternehmen bedeutet der bewusste Umgang mit Bias und Beobachtungsfehlern nicht nur mehr Fairness und mehr Sicherheit bei Besetzungsentscheidungen, sondern auch eine bessere Candidate Experience, da ein konstruktives Feedback in der Entscheidungsbegründung möglich ist. Pauschale Aussagen wie „Sie sind kein Teamplayer“ oder „Sie wirken konfliktscheu“ sind wenig konstruktiv, da sie interpretativ sind und nicht weiterhelfen. Wenn Beobachtungen hingegen präzise dokumentiert und klar von Interpretationen getrennt wurden, kann Feedback konkret, nachvollziehbar und wertschätzend vermittelt werden. Besser ist es, an konkreten Situationen anzuknüpfen: „In Ihrer Schilderung zu Projekterfahrungen haben Sie vor allem Ihre eigenen Arbeitsschritte beschrieben, die Zusammenarbeit mit dem Team blieb dabei eher im Hintergrund.“ Oder: „In der Rollensimulation haben Sie die Einwände Ihres Gegenübers zunächst nicht aufgegriffen – das wirkte eher zurückhaltend im Umgang mit Konflikten.“ Das steigert die Akzeptanz der Entscheidung und unterstützt gleichzeitig die Weiterentwicklung der Kandidaten.

Fazit: Fairness braucht System

Ein erfolgreiches und nachvollziehbares Auswahlverfahren, in dem Stärken sichtbar und Vorurteile reduziert werden ist nur möglich, wenn Beobachtung und Interpretation klar voneinander getrennt werden, strukturierte Abläufe vorhanden sind und die Bewertung erst im Nachgang erfolgt. Die Beobachtenden tragen Verantwortung, indem sie präzise dokumentieren, was gesagt und gezeigt wurde, statt Eindrücke oder Annahmen festzuhalten. Kandidaten wiederum können durch konkrete Beispiele anstelle allgemeiner Floskeln selbst zu einem klareren Bild beitragen. So profitieren Unternehmen von besseren Entscheidungen und Kandidaten von nachvollziehbaren Rückmeldungen.

Als etablierter Personalberater begleitet TRESCON Kunden genau auf diesem Weg – mit System, Erfahrung und diagnostischer Kompetenz.

Bildquellen
TRESCON, Shutterstock

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