Bias und Beobachtungsfehler im Interviewprozess – Teil 1: Theoretische Grundlage
Bias und Wahrnehmungsfehler prägen jede Beurteilung. Teil 1 erläutert die Grundlagen und Fehlerquellen – für mehr Bewusstsein im Auswahlprozess.
Einleitung
Die Personalauswahl ist ein sensibles Feld. Entscheidungen in diesem Bereich haben langfristige Konsequenzen – für Unternehmen ebenso wie für Kandidaten. Doch so sorgfältig ein Auswahlverfahren auch gestaltet sein mag: Wahrnehmungsfehler und unbewusste Vorurteile können den Prozess erheblich verzerren. Sie schleichen sich leise ein, wirken subtil – und führen dennoch zu folgenschweren Fehlentscheidungen. In diesem ersten Teil unserer Blogserie beleuchten wir die theoretischen Grundlagen und ordnen die wichtigsten Arten von Beurteilungsfehlern ein. Dieses Wissen ist die Basis, um im zweiten Teil konkrete Maßnahmen zur Vermeidung von Bias erfolgreich umsetzen zu können.
Was sind Beurteilungsfehler?
Von einem Beurteilungsfehler spricht man, wenn Urteile nicht auf objektiv beobachtetem Verhalten beruhen, sondern durch andere Einflüsse verzerrt werden. Das kann unbewusst durch selektive Wahrnehmung oder stereotype Annahmen geschehen oder bewusst-strategisch, wenn z. B. Vorgesetzte ihre Mitarbeiter bewusst besser darstellen, um die eigene Abteilung in einem guten Licht erscheinen zu lassen.
Hauptkategorien von Beurteilungsfehlern
Die Forschung unterscheidet im Wesentlichen drei Kategorien: Täuschungen, Verzerrungen und Versagen.
- Täuschungen entstehen in der Regel durch Wahrnehmungs- und Gedächtnisfehler. Unser Gehirn nimmt nie die ganze Realität wahr, sondern filtert und interpretiert ständig. Schon kleine Details können dazu führen, dass wir uns später an eine Situation anders erinnern, als sie tatsächlich war.
- Verzerrungen sind systematische Verschiebungen im Urteil. Dabei geht es nicht um fehlende Erinnerung, sondern um Tendenzen, die unsere Einschätzung in eine bestimmte Richtung lenken. Beispiele hierfür sind der Milde-Effekt, bei dem wir Kandidaten generell zu wohlwollend beurteilen, oder der Sympathieeffekt, bei dem wir jemanden positiver einschätzen, nur weil er uns persönlich sympathisch ist.
- Von Versagen spricht man, wenn bewusst leistungsfremde Kriterien in die Beurteilung einfließen. Das ist besonders heikel, weil hier nicht nur unbewusste Mechanismen wirken, sondern auch Absicht im Spiel ist. Beispiele sind das strategische „Schützen“ einzelner Teammitglieder oder das bewusste Herabstufen anderer, um die eigene Position zu stärken.
Typische Wahrnehmungsverzerrungen im Detail
Besonders bekannt ist der Halo-Effekt: Eine einzelne, auffällige Eigenschaft überstrahlt das gesamte Urteil. So wird beispielsweise ein rhetorisch starker Kandidat schnell auch für analytisch fähig gehalten – obwohl dies gar nicht beobachtet wurde. Ähnlich wirken der Primacy- und der Recency-Effekt, bei denen der erste bzw. letzte Eindruck überbewertet wird, sowie der Klebeeffekt, bei dem frühere Urteile zu lange nachwirken.
Andere Verzerrungen entstehen durch Sympathie oder Antipathie, durch Nähe- und Hierarchiebeziehungen oder durch fest verankerte Stereotypen. Wir alle kennen Situationen, in denen unser Bild von Menschen durch deren Herkunft, Geschlecht oder Rolle geprägt wird – selbst wenn diese Merkmale für die konkrete Leistung irrelevant sind.
Systemische und persönliche Fehlerquellen
Fehler entstehen nicht nur im Kopf des Beobachtenden, sondern auch in den Strukturen selbst. Unklare oder zu viele Kriterien im Interview, irrelevante Maßstäbe oder zu lange Zeiträume zwischen Beobachtung und Bewertung führen ebenfalls zu verfälschten Ergebnissen. Hinzu kommen persönliche Einflüsse. So projizieren manche Beobachtende ihre eigenen Eigenschaften auf andere oder legen unbewusst ihre individuellen Maßstäbe an, anstatt sich am definierten Anforderungsprofil zu orientieren.
Fazit: Bewusstsein ist der erste Schritt
Die Vielzahl dieser Fehler macht deutlich: Wahrnehmungsverzerrungen sind keine Randerscheinung, sondern eine zentrale Herausforderung bei der Personalauswahl. Wer die Mechanismen kennt, kann sie reflektieren – und im zweiten Schritt bewusst gegensteuern. Genau darum geht es im nächsten Teil: Wir zeigen, wie Interviews so gestaltet werden können, dass Bias reduziert und Entscheidungen fairer werden.
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